Das Landessozialgericht Baden-Württemberg hat am 17.12.2020 zum Aktenzeichen L 7 R 3817/19 entschieden, dass wenn ein Versicherter wegen einer chronischen Darmerkrankung unter häufigen und unkontrollierbaren Darmentleerungen leidet, die es erforderlich machen, sich stets in der Nähe einer Toilette aufzuhalten, er nicht auf die Verwendung öffentlicher Nahverkehrsmittel verwiesen werden kann.
Aus der Pressemitteilung des LSG BW vom 26.02.2021 ergibt sich:
Die 1970 geborene K zog 1974 in die Bundesrepublik Deutschland zu. Zuletzt war sie von Juni 2010 bis März 2014 versicherungspflichtig in der Altenpflege tätig. Anschließend bezog sie bis Ende 2016 Arbeitslosen- und Krankengeld. Seit November 2019 übt sie eine geringfügige nicht versicherungspflichtige Beschäftigung bis zu sechs Stunden pro Woche in der häuslichen Altenpflege aus. Um die zu pflegende Person aufzusuchen, wird K u.a. von ihrem berufstätigen Ehemann mit dem Auto gefahren. K ist nicht im Besitz eines Führerscheins. Jedenfalls seit Oktober 2016 leidet sie unter einer aktiven Morbus-Crohn-Erkrankung mit mindestens 10 Durchfällen pro Tag sowie plötzlicher und unvorhersehbarer Dranginkontinenz.
Im Juni 2017 beantragte K die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente. Sie machte geltend, bei Verlassen des Hauses müsse sie sich aufgrund ihrer blutigen Durchfälle immer vergewissern, wo sie unterwegs eine Toilette aufsuchen könne. So habe sie z.B. die Erlaubnis, im Supermarkt auf die Personaltoilette gehen zu können. Der Rentenversicherungsträger lehnte den Antrag ab, weil K kürzere Fahrstrecken in öffentlichen Verkehrsmitteln ohne Toiletten möglich seien.
Widerspruch und Klage hiergegen blieben erfolglos.
Auf die Berufung der K hat der 7. Senat des Landessozialgerichts Baden-Württemberg den Rentenversicherungsträger zur Gewährung einer befristeten Erwerbsminderungsrente verurteilt.
Denn es sei K nicht zumutbar, eine Arbeitsstätte aufzusuchen. Angesichts der Notwendigkeit, jederzeit eine Toilette zu benutzen, könne K nicht auf öffentliche Nahverkehrsmittel verwiesen werden. Diese hätten entweder gar keine Toiletten (wie etwa Busse und U-Bahnen) oder (wie etwa Regionalverkehrszüge) Toiletten in nicht in quantitativ ausreichender und funktionell zuverlässiger Weise. Anders als womöglich bei Harninkontinenz könne K aufgrund ihrer Stuhlinkontinenz nicht auf die Nutzung von Einlagen verwiesen werden. Dies gelte umso mehr, als sie sich nicht etwa auf dem Weg nach Hause mit der Möglichkeit anschließender Hygienemaßnahmen, sondern auf dem Weg zur Arbeitsstätte befinde. Die Erwerbsminderungsrente sei schließlich zu befristen gewesen, da nicht ausgeschlossen werden könne, dass K durch die Optimierung der laufenden Therapie zukünftig wieder die erforderlichen Wege zum Arbeitsplatz zurücklegen könne.
Das Urteil ist nicht rechtskräftig; der unterlegene Rentenversicherungsträger kann hiergegen Nichtzulassungsbeschwerde beim Bundessozialgericht einlegen.