Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg in Mannheim hat mit Beschluss vom 18.02.2021 zum Aktenzeichen 1 S 398/21 den Eilantrag eines Einzelhandelsunternehmens aus dem Textilbereich gegen die Untersagung seines Betriebs durch die Corona-Verordnung der Landesregierung Baden-Württembergs abgelehnt.
Aus der Pressemitteilung des VGH BW Nr. 11/2021 vom 18.02.2021 ergibt sich:
Die Antragstellerin hat mit ihrem Antrag vorgetragen, sie beschäftige über 5.000 Mitarbeiter und habe 2019 als großes mittelständisches Familienunternehmen einen Umsatz von deutlich über 750 Mio. EUR bei einem positiven Jahresergebnis im zweistelligen Millionenbereich erzielt. Sie müsse ihre Warenhäuser seit dem 16. Dezember 2020 geschlossen halten, ihre dort teilweise vorhandenen Gastronomie- und Friseurbetriebe seien bereits seit November 2020 geschlossen. Sie habe keinen Zugang zu den Förderprogrammen des Bundes. Für die Überbrückungshilfe III seien nur Unternehmen mit einem Jahresumsatz von maximal 750 Mio. EUR antragsberechtigt. Ihr Umsatz für 2020 liege voraussichtlich darüber.
Die Antragstellerin macht geltend, die Corona-Verordnung führe zu einem rechtswidrigen Eingriff in ihr Eigentumsrecht, der entschädigungspflichtig sei. Die Betriebsschließung sei unverhältnismäßig. Weniger belastende Maßnahmen wie stärkere Zugangsbeschränkungen zu Alten- und Pflegeheimen, intensive Test- und Quarantäneanordnungen oder eine Dienstverpflichtung von medizinischem Personal stellten für die Gesellschaft als Ganzes offenkundig weniger belastende Maßnahmen als ein Lockdown dar. Es erschließe sich nicht, warum von einer unzureichenden Personalausstattung in den Krankenhäusern berichtet werde, wenn zugleich eine Vielzahl von Ärzten Tätigkeiten ausschließlich in Verwaltungsbereichen der Krankenhäuser und Krankenversicherungen oder als freigestellte Personalräte nachgingen. Auch in der Corona-Pandemie gelte es nicht, jedes Leben um jeden Preis zu schützen und alles andere dahinter zurückstehen zu lassen. Dementsprechend komme auch niemand auf die Idee, trotz der Verkehrstoten den motorisierten Straßenverkehr zu verbieten oder trotz des Todes von Kindern auf dem Schulweg allgemein auf ein „Homeschooling“ umzustellen. Auch verstoße es gegen den Gleichheitsgrundsatz, dass ein Supermarkt seine Bekleidungsabteilung weiterhin betreiben dürfe, die Antragstellerin ihre Verkaufshäuser hingegen geschlossen halten müsse.
Der Antragsgegner ist dem Antrag entgegengetreten und trägt vor, die Antragstellerin stelle den Sachverhalt teils unvollständig und teils tendenziös dar. Die Einrichtung von Abholstellen und Lieferdiensten sei der Antragstellerin erlaubt. Ausweislich von Presseberichten erziele sie 30 % ihres Umsatzes mit ihrem sehr gut etablierten Online-Shop. Die Möglichkeiten des Außer-Haus-Verkaufs und von Abhol- und Lieferdienste im Gastronomiebereich unterschlage sie. Der Vortrag der Antragstellerin zur Überbrückungshilfe III sei nicht nachvollziehbar, da sich ihr Umsatz – ausgehend von ihren Angaben zum Jahresumsatz 2019 und zum Umsatzrückgang in 2020 – unter der maßgeblichen Bezugsgröße von 750 Mio. EUR befinde. Der Antragsgegner macht geltend, es liege kein Eingriff in das Eigentumsgrundrecht vor. Die Betriebsuntersagung sei zeitlich befristet und gälte „nur“ für den Publikumsverkehr. Eine Ausgleichpflicht für Inhalts- und Schrankenbestimmungen im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG könne nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts stets nur für Einzelfälle bestehen, nicht aber für Betriebsbeschränkungen, die sämtliche Betreiber der von den pandemiebedingten Maßnahmen betroffenen Einrichtungen in gleicher Weise träfen. Die angegriffenen Regelungen seien weiterhin verhältnismäßig.
Der VGH Mannheim hat den Eilantrag abgelehnt.
Dazu führt der 1. Senat des VGH aus, die Voraussetzungen des Infektionsschutzgesetzes für Betriebsschließungen seien gegenwärtig voraussichtlich erfüllt. Die 7-Tages-Inzidenz liege bundesweit über 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner. In einer solchen Konstellation seien „bundesweit abgestimmte umfassende, auf eine effektive Eindämmung des Infektionsgeschehens abzielende Schutzmaßnahmen anzustreben“ (§ 28a Abs. 3 Satz 9 IfSG). Die Entscheidung des Antragsgegners in der Corona-Verordnung, den Betrieb von Einzelhandelsgeschäften grundsätzlich zu untersagen, sei auch Teil einer solchen „bundesweiten Abstimmung“. Denn der Antragsgegner setze damit einen am 10. Februar 2021 in einer Videokonferenz der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und -chefs der Länder gefassten, von ihm dort mitgetragenen Beschluss um.
Bei der Umsetzung einer solchen bundesweit einheitlichen Strategie in Landesrecht habe der Antragsgegner den ausdrücklichen Willen des Bundesgesetzgebers bei der Verabschiedung des § 28a IfSG im November 2020 berücksichtigen dürfen, dass „mögliche infektiologische Wechselwirkungen und Verstärkungen zwischen einzelnen Regionen“ möglichst ausgeschlossen werden sollen. Daher bestehe gegenwärtig kein Anlass, bei der Schließung von Einzelhandelsgeschäften regional differenzierende Regelungen zu schaffen. Denn eine punktuelle Öffnung des Einzelhandels in einigen Kreisen führe zu umfangreichen Kundenströmen zwischen einzelnen Kreisen und aus anderen Bundesländern und damit voraussichtlich zu einem erheblichen Anstieg der Sozialkontakte und der Infektionsgefahren.
Aus dem Umstand, dass die 7-Tages-Inzidenz von 50 im landesweiten Durchschnitt inzwischen unterschritten werde, folge nichts anderes. Dieser Umstand zwinge den Antragsgegner insbesondere nicht dazu, sich einer bundeseinheitlich abgestimmten Strategie zur Pandemiebekämpfung zu verweigern. Denn die Unterschreitung des auf den Landesdurchschnitt bezogenen Inzidenzschwellenwerts ändere nichts daran, dass der Anwendungsbereich von Satz 9 des § 28a Abs. 3 IfSG weiterhin eröffnet sei. Hinzu komme, dass der Schwellenwert im Land erst seit wenigen Tagen und bislang auch nur geringfügig unterschritten werde.
Die Einschränkungen seien weiterhin verhältnismäßig. Die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland sei insgesamt noch als sehr hoch einzuschätzen. Dies rechtfertige es gegenwärtig, weiterhin Betriebsuntersagungen aufrechtzuerhalten. Die dem entgegenstehenden – grundrechtlich geschützten – Belange der Antragstellerin hätten ein sehr beachtliches Gewicht, müssten jedoch hinter den Belangen des Gesundheitsschutzes zurücktreten. Zum Überwiegen dieser Belange trage derzeit in vielen Fällen auch bei, dass zur Abmilderung der zu erwartenden wirtschaftlichen Einbußen weitgehende staatliche Kompensationsmaßnahmen vorgesehen seien. Dass die Antragstellerin hiervon in keiner Weise profitiere, sei angesichts der undifferenzierten Angaben der Antragstellerin zur Konzernstruktur und zum Umsatz im vorliegenden Eilverfahren nicht plausibel. Gegen einen gänzlichen Ausschluss der Antragstellerin spreche zudem die sinngemäße Verlautbarung des Bundeswirtschaftsministers vom 16. Februar 2021, die Begrenzung der Überbrückungshilfe III auf Unternehmen mit einem Umsatz bis zu 750 Mio. EUR wegfallen zu lassen und einen „Härtefall-Fonds“ einrichten zu wollen.
Zudem sei der Antragstellerin der Betrieb ihrer Einzelhandelsgeschäfte keineswegs vollständig untersagt. Sie könne ihre Waren vielmehr über Abholangebote und Lieferdienste einschließlich solcher des – auch von ihr in erheblichem Umfang betriebenen – Online-Handels anbieten. Dass sie die Möglichkeiten nicht nutzen wolle, weil sie sie etwa aufgrund der räumlichen Gestaltung ihrer Ladengeschäfte für nicht hinreichend praktikabel oder auskömmlich halte, ändere nichts daran, dass die Ausnameregelungen zur Verhältnismäßigkeit der „nur“ auf den Präsenzbetrieb der Geschäfte gerichteten Schließungsanordnung beitrügen. Die Einschränkungen seien zudem zeitlich befristet. Auch die bundesweit abgestimmte Pandemiebekämpfungsstrategie sehe konkrete Maßgaben für eine zeitnahe Wiederöffnung auch des Einzelhandels vor.
Daher seien die Einschränkungen für die Antragstellerin voraussichtlich selbst dann zumutbar und verhältnismäßig, wenn sie keine staatlichen Kompensationsleistungen erhalten sollte. Daher würden sich die von ihr aufgeworfenen Fragen, ob die angefochtene Verordnungsbestimmung eine ausgleichspflichtige Inhalts- und Schrankenbestimmung i.S.v. Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG darstelle und ob der Bundesgesetzgeber verpflichtet gewesen wäre, im Infektionsschutzgesetz eine dahingehende Regelung zu schaffen, im Hauptsacheverfahren nach derzeitigen Erkenntnisstand voraussichtlich nicht stellen.
An einem Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz fehle es. Die Grundentscheidung des Antragsgegners, den Einzelhandel für Lebensmittel und Getränke von der grundsätzlichen Schließungsanordnung auszunehmen, sei nicht zu beanstanden. Denn dieser diene der Grundversorgung der Bevölkerung. Dem Lebensmitteleinzelhandel auch den Weitervertrieb von Sortimentsteilen jenseits von Lebensmitteln und Getränken einschließlich von Textilien in untergeordnetem Umfang zu gestatten, sei durch sachliche Gründe gerechtfertigt. Diese Unterscheidung beruhe auf Gründen des Infektionsschutzes. Der Antragsgegner habe davon ausgehen dürfen, dass der Verkauf solcher Produkte durch den Lebensmitteleinzelhandel zu keinem zusätzlichen Anstieg der durch die Öffnung des Einzelhandels ohnehin geschaffenen Infektionsquellen führen, eine Öffnung des Textileinzelhandels hingegen zusätzliche Infektionsquellen schaffen würde.
Der Beschluss ist unanfechtbar.