Wieder einmal: Einstweilige Verfügung ohne vorherige Anhörung ist verfassungswidrig

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 11. Januar 2021 zum Aktenzeichen 1 BvR 2681/20 entschieden, dass eine einstweilige Verfügung eines Gerichts ohne vorherige Anhörung des Gegners verfassungswidrig ist.

Der Erlass der einstweiligen Verfügung durch das Oberlandesgericht verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem grundrechtsgleichen Recht auf prozessuale Waffengleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.

Der Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit ist Ausprägung der Rechtsstaatlichkeit und des allgemeinen Gleichheitssatzes im Zivilprozess und sichert verfassungsrechtlich die Gleichwertigkeit der prozessualen Stellung der Parteien vor Gericht. Das Gericht muss den Prozessparteien im Rahmen der Verfahrensordnung gleichermaßen die Möglichkeit einräumen, alles für die gerichtliche Entscheidung Erhebliche vorzutragen und alle zur Abwehr des gegnerischen Angriffs erforderlichen prozessualen Verteidigungsmittel selbständig geltend zu machen. Die prozessuale Waffengleichheit steht dabei im Zusammenhang mit dem Gehörsgrundsatz aus Art. 103 Abs. 1 GG, der eine besondere Ausprägung der Waffengleichheit ist. Als prozessuales Urrecht gebietet dieser, in einem gerichtlichen Verfahren der Gegenseite grundsätzlich vor einer Entscheidung Gehör und damit die Gelegenheit zu gewähren, auf eine bevorstehende gerichtliche Entscheidung Einfluss zu nehmen. Entbehrlich ist eine vorherige Anhörung nur in Ausnahmefällen. Voraussetzung der Verweisung auf eine nachträgliche Anhörung ist, dass ansonsten der Zweck des einstweiligen Verfügungsverfahrens vereitelt würde. Im Presse- und Äußerungsrecht kann jedenfalls nicht als Regel von einer Erforderlichkeit der Überraschung des Gegners bei der Geltendmachung von Ansprüchen ausgegangen werden. Speziell im Gegendarstellungsrecht ist das vorherige Veröffentlichungsverlangen eine materiell-rechtliche Voraussetzung für den Gegendarstellungsanspruch. Ein schutzwürdiges Interesse daran, dass die Geltendmachung eines Gegendarstellungsanspruchs als solche dem Schuldner verborgen bleibt, scheidet damit aus.

Durch den Erlass der einstweiligen Verfügung ohne vorherige Anhörung der Beschwerdeführerin war vorliegend keine Gleichwertigkeit ihrer prozessualen Stellung gegenüber dem Verfahrensgegner gewährleistet. Zwar hatte der Antragsteller die Beschwerdeführerin außerprozessual abmahnen und ihr unterschiedliche Gegendarstellungsverlangen zukommen lassen. Die Beschwerdeführerin hatte den Abdruck der Gegendarstellungen beide Male mit begründetem Schreiben abgelehnt. Bereits bei dem Vergleich der an die Beschwerdeführerin gerichteten Abmahnungsschreiben mit den an das Landgericht gerichteten Schriftsätzen des Antragstellers ist augenfällig, dass diese nicht identisch seien können (drei und fünf Seiten gegenüber zwei Mal sieben Seiten). Hinzukommt, dass der Bevollmächtigte des Antragstellers in seinen gerichtlichen Antragsschriftsätzen jeweils auf Einwände, die die Beschwerdeführerin in ihrem Erwiderungsschreiben vorgetragen hatte, teilweise ausdrücklich erwiderte und darüber hinaus versuchte, potentiellen Gegenargumenten der Beschwerdeführerin vorzugreifen. Schon aus dem Umstand der ersichtlich fehlenden Kongruenz des Vortrags ergab sich, dass die Gerichte im Sinne gleichwertiger Äußerungs- und Verteidigungsmöglichkeiten der Beschwerdeführerin – gegebenenfalls auch fernmündlich oder per E-Mail – Gelegenheit hätten geben müssen, den Vortrag des Antragstellers zumindest zur Kenntnis zu nehmen und ihrerseits – gegebenenfalls auch kurzfristig – zu erwidern. Weiter ist zu berücksichtigen, dass im Zeitpunkt des Erlasses der einstweiligen Verfügung seit Eingang des ursprünglichen Antrags beim Landgericht bereits mehr als fünf Wochen vergangen waren. Es ist nicht ersichtlich, wieso das Oberlandesgericht vor diesem Hintergrund der Beschwerdeführerin keine Gelegenheit zur – gegebenenfalls auch kurzfristigen – Stellungnahme geben konnte.

Erst recht hätte schon das Landgericht, spätestens jedoch das Oberlandesgericht die Beschwerdeführerin vor dem Erlass eines Beschlusses über den Hinweis des Landgerichts vom 28. September 2020 in Kenntnis setzen müssen. Es ist verfassungsrechtlich geboten, den jeweiligen Verfahrensgegner vor Erlass einer Entscheidung in den gleichen Kenntnisstand zu versetzen wie den Antragsteller. Hierfür sind auch ihm die an den Antragsteller ergangenen richterlichen Hinweise zeitnah mitzuteilen. Dies gilt insbesondere, wenn es – wie vorliegend – bei Rechtsauskünften in Hinweisform darum geht, einen Antrag gleichsam nachzubessern oder eine Einschätzung zu den Erfolgsaussichten abzugeben.

Die Einbeziehung der Beschwerdeführerin durch das Gericht vor Erlass der Verfügung wäre offensichtlich geboten gewesen. Im Rahmen dessen hätte eine Frist zur Stellungnahme kurz bemessen sein können. Unzulässig ist es jedoch, wegen einer gegebenenfalls durch die Anhörung des Antragsgegners befürchteten Verzögerung oder wegen einer durch die Stellungnahme erforderlichen, arbeitsintensiven Auseinandersetzung mit dem Vortrag des Antragsgegners bereits in einem frühen Verfahrensstadium gänzlich von einer Einbeziehung der Gegenseite abzusehen und sie stattdessen bis zum Zeitpunkt der auf Widerspruch hin anberaumten mündlichen Verhandlung mit einer einseitig erstrittenen gerichtlichen Gegendarstellungsverfügung und den damit einhergehenden Zwangsvollstreckungsmaßnahmen des Antragstellers zu belasten.