Abschiebung von minderjährigen Flüchtlingen nur bei geeigneter Aufnahmemöglichkeit

14. Januar 2021 -

Der Europäische Gerichtshof hat am 14.01.2021 zum Aktenzeichen C-441/19 entschieden, dass unbegleitete minderjährige Flüchtlinge nur dann in ihr Herkunftsland abgeschoben werden dürfen, wenn dort für sie eine geeignete Aufnahmemöglichkeit vorhanden ist.

Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 5/2021 vom 14.01.2021 ergibt sich:

Andernfalls sei ihnen vorübergehender Aufenthalt zu gewähren, so der EuGH.

Im Juni 2017 stellte TQ, ein unbegleiteter Minderjähriger, der damals 15 Jahre und vier Monate alt war, in den Niederlanden einen Antrag auf eine befristete Aufenthaltserlaubnis für Asylbewerber. Im Rahmen dieses Antrags erklärte TQ, 2002 in Guinea geboren zu sein. Nach dem Tod seiner Tante, bei der er in Sierra Leone gelebt habe, sei er nach Europa gekommen. In Amsterdam (Niederlande) sei er Opfer von Menschenhandel und sexueller Ausbeutung geworden, weshalb er derzeit unter schwerwiegenden psychischen Störungen leide. Im März 2018 entschied der Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Staatssekretär für Sicherheit und Justiz, Niederlande, im Folgenden: Staatssekretär) von Amts wegen, dass TQ keine befristete Aufenthaltserlaubnis erteilt werden kann, und insoweit stellt das vorlegende Gericht klar, dass TQ keinen Anspruch auf den Flüchtlingsstatus oder auf subsidiären Schutz habe. Nach niederländischem Recht gilt die Entscheidung des Staatssekretärs als Rückkehrentscheidung. Im April 2018 erhob TQ gegen diese Entscheidung beim vorlegenden Gericht Klage, mit der er u.a. geltend macht, dass er nicht wisse, wo seine Eltern wohnten, dass er sie bei seiner Rückkehr auch nicht wiedererkennen könne, dass er keinen anderen Familienangehörigen kenne und dass er nicht einmal wisse, ob es Familienangehörige gebe. Das vorlegende Gericht erklärt, dass die niederländische Regelung nach dem Alter des unbegleiteten Minderjährigen unterscheide. Bei unbegleiteten Minderjährigen, die zum Zeitpunkt der Beantragung von Asyl unter 15 Jahren seien, werde vor Erlass einer Entscheidung über diesen Antrag gemäß Art. 10 der Richtlinie 2008/115 (ABl. 2008, L 348, 98) untersucht, ob eine geeignete Aufnahmemöglichkeit im Rückkehrstaat bestehe, und insoweit werde diesen Minderjährigen ein regulärer Aufenthaltstitel erteilt, wenn eine solche geeignete Aufnahmemöglichkeit fehle. Bei unbegleiteten Minderjährigen, die wie TQ zum Zeitpunkt der Beantragung von Asyl 15 Jahre alt oder älter seien, finde keine solche Untersuchung statt, und die niederländischen Behörden schienen abzuwarten, bis die fraglichen Minderjährigen das Alter von 18 Jahren erreichten, um anschließend die Rückkehrentscheidung umzusetzen. Daher sei der Aufenthalt eines 15 Jahre alten oder älteren unbegleiteten Minderjährigen im Zeitraum zwischen seinem Asylantrag und dem Erreichen der Volljährigkeit in den Niederlanden illegal, aber geduldet.
In diesem Kontext hat das vorlegende Gericht beschlossen, den EuGH nach der unionsrechtlichen Vereinbarkeit der in der niederländischen Regelung enthaltenen Unterscheidung zwischen unbegleiteten Minderjährigen über 15 Jahren und unter 15 Jahren zu fragen.

Der EuGH hat entschieden, dass ein Mitgliedstaat vor Erlass einer Rückkehrentscheidung gegenüber einem unbegleiteten Minderjährigen prüfen muss, ob für den Minderjährigen im Rückführungsstaat eine geeignete Aufnahmemöglichkeit vorhanden ist. Außerdem dürfe der Mitgliedstaat die Rückkehrentscheidung nicht vollstrecken, wenn zum Zeitpunkt der Abschiebung keine geeignete Aufnahmemöglichkeit mehr gewährleistet sei.

Nach Auffassung des EuGH hat ein Mitgliedstaat, der den Erlass einer Rückkehrentscheidung gemäß der Rückführungsrichtlinie gegen einen unbegleiteten Minderjährigen in Betracht zieht, in allen Stadien des Verfahrens zwingend das Wohl des Kindes (Art. 5 Buchst. a der Rückführungsrichtlinie) zu berücksichtigen, was die Vornahme einer umfassenden und eingehenden Beurteilung der Situation des Minderjährigen voraussetzt. Wenn der betreffende Mitgliedstaat eine Rückkehrentscheidung erließe, ohne sich zuvor vergewissert zu haben, ob es im Rückkehrstaat eine geeignete Aufnahmemöglichkeit gibt, hätte das zur Folge, dass der Minderjährige, obgleich eine Rückkehrentscheidung gegen ihn erlassen wurde, nicht abgeschoben werden könnte, wenn keine geeignete Aufnahmemöglichkeit vorhanden sei. Ein solcher Minderjähriger würde somit in eine Situation großer Unsicherheit hinsichtlich seiner Rechtsstellung und seiner Zukunft versetzt, insbesondere in Bezug auf seine Schulausbildung, seine Verbindung zu einer Pflegefamilie oder die Möglichkeit, in dem betreffenden Mitgliedstaat zu bleiben, was der Anforderung zuwiderliefe, dass das Wohl des Kindes in allen Stadien des Verfahrens zu berücksichtigen sei. Folglich könne gegen den betreffenden Minderjährigen keine Rückkehrentscheidung ergehen, wenn im Rückkehrstaat keine geeignete Aufnahmemöglichkeit zur Verfügung stehe.

Das Alter des fraglichen unbegleiteten Minderjährigen stelle nur einen von mehreren Gesichtspunkten dar, um zu prüfen, ob im Rückführungsstaat eine geeignete Aufnahmemöglichkeit vorhanden sei, und um festzustellen, ob das Wohl des Kindes dazu veranlassen müsse, keine Rückkehrentscheidung gegen diesen Minderjährigen zu erlassen. Daher dürfe ein Mitgliedstaat bei unbegleiteten Minderjährigen nicht nach dem alleinigen Kriterium des Alters unterscheiden, wenn er prüfe, ob eine solche Aufnahmemöglichkeit vorhanden sei.

Desgleichen stellt der EuGH fest, dass angesichts der Pflicht der Mitgliedstaaten, gegen alle illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung zu erlassen (Art. 6 Abs. 1 der Rückführungsrichtlinie) und sie innerhalb kürzester Frist abzuschieben (Art. 8 der Rückführungsrichtlinie), die Rückführungsrichtlinie dem entgegensteht, dass ein Mitgliedstaat, nachdem er gegenüber einem unbegleiteten Minderjährigen eine Rückkehrentscheidung erlassen und sich vergewissert hat, dass es im Rückkehrstaat eine geeignete Aufnahmemöglichkeit gibt, anschließend davon absieht, ihn abzuschieben, bis er das Alter von 18 Jahren erreicht. In diesem Fall müsse der betreffende Minderjährige vorbehaltlich der Entwicklung seiner Situation aus dem Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats abgeschoben werden. In der zuletzt genannten Hinsicht sei festzustellen, dass der betreffende Mitgliedstaat die Rückkehrentscheidung nicht vollstrecken dürfe, falls zum Zeitpunkt der geplanten Abschiebung des unbegleiteten Minderjährigen im Rückkehrstaat keine geeignete Aufnahmemöglichkeit mehr gewährleistet sei.