Erfolgreiche Verfassungsbeschwerden gegen Überstellung nach Rumänien zum Zwecke der Strafverfolgung und Strafvollstreckung

Das Bundesverfassungsgericht hat am 01.12.2020 zu den Aktenzeichen 2 BvR 2100/18 und 2 BvR 1845/18 entschieden, dass die von Fachgerichten für zulässig erachtete Überstellung nach Rumänien zum Zwecke der Strafverfolgung beziehungsweise der Strafvollstreckung die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aus Artikel 4 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) verletzt.

Aus der Pressemitteilung des BVerfG Nr. 108/2020 vom 30.12.2020 ergibt sich:

Die Fachgerichte hätten die Bedeutung und Tragweite des hier maßgeblichen Unionsgrundrechts aus Art. 4 GRCh verkannt und die damit verbundenen Aufklärungspflichten nicht in ausreichendem Maße berücksichtigt. Sie hätten nicht hinreichend genau geprüft und aufgeklärt, ob eine konkrete Gefahr besteht, dass die Beschwerdeführer nach der Überstellung in Rumänien unmenschlichen oder erniedrigenden Haftbedingungen ausgesetzt seien, so das BVerfG.

Gegen den Beschwerdeführer zu 1., einen rumänischen Staatsangehörigen, besteht ein Europäischer Haftbefehl zur Strafvollstreckung zur Verbüßung einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren insbesondere wegen versuchten Mordes in Rumänien. Das KG ordnete die Auslieferungshaft an. Im Verfahrensverlauf teilten die rumänischen Behörden der Generalstaatsanwaltschaft Berlin mit, dass der Beschwerdeführer zu 1. zunächst für eine Quarantänezeit von 21 Tagen in einer Gemeinschaftszelle mit einem persönlichen Raum von mindestens 3 m² untergebracht werde. Die darauffolgende Haftstrafe werde höchstwahrscheinlich im geschlossenen Vollzug vollstreckt, in dem er wiederum in einer Gemeinschaftszelle einen persönlichen Raum von 3 m² erhalte. Dort seien alle Räume mit WC, Waschbecken und Duschen ausgestattet. Es gebe natürliches Licht durch ein Fenster, künstliches weißes Neonlicht sowie einen Tisch, Stühle und Kleiderhaken. Kaltes Trinkwasser sei ständig zugänglich, warmes Wasser drei Mal die Woche nach einem von der Anstalt festgelegten Badeprogramm. Alle Räume würden regelmäßig desinfiziert. Nach der Vollstreckung eines Fünftels der Strafe werde der Verfolgte neu beurteilt. Bei einer Verlegung in ein offenes Vollzugsregime stehe ihm ein individueller persönlicher Raum von 2 m² zu. Die Hafträume seien mit WC, Waschbecken, Regalen und Spiegeln ausgestattet. Fünf von acht Hafteinheiten verfügten zudem über Duschen. Es gebe ausreichend Licht, eine natürliche Belüftung, und es werde regelmäßig desinfiziert. Im halboffenen Vollzug seien die Türen tagsüber offen und die Gefangenen könnten sich ohne Begleitung in der Anstalt und auf dem Hof bewegen. Nach dem Abendappell um 19.00 Uhr fänden bis zur Nachtruhe um 22.00 Uhr individuelle Freizeittätigkeiten in den Hafträumen statt.
Das KG erklärte die Auslieferung des Beschwerdeführers zu 1. für zulässig. Die Haftbedingungen des (halb)offenen Vollzugsregimes seien nicht maßgeblich, weil ungewiss sei, ob es zu einer Verlegung kommen werde. Die Überprüfung der Haftbedingungen von Vollzugsanstalten, in denen der Beschwerdeführer später inhaftiert sein könnte, falle in die alleinige Zuständigkeit der Gerichte des ersuchten Mitgliedstaats. Die Haftbedingungen in der Quarantäne und im geschlossenen Vollzug entsprächen mit einem Mindesthaftraumanteil von 3 m² pro Gefangenem den unionsrechtlichen Mindestvorschriften aus Art. 4 GRCh und Art. 3 EMRK.

Gegen den Beschwerdeführer zu 2., einen irakischen Staatsangehörigen, besteht ein Europäischer Haftbefehl eines rumänischen Gerichts zur Strafverfolgung wegen Beihilfe zur illegalen Einreise und zum illegalen Aufenthalt. Das OLG Celle ordnete Auslieferungshaft an. Die Generalstaatsanwaltschaft Celle erkundigte sich bei den rumänischen Behörden nach den zu erwartenden Haftbedingungen für die Untersuchungshaft und für die Strafvollstreckung nach einer möglichen Verurteilung und bat um Zusicherung von Haftbedingungen, die den Anforderungen von Art. 3 EMRK für jede Form des Strafvollzugs (geschlossen, halboffen und offen) entsprächen. Die rumänischen Behörden teilten mit, dass die Untersuchungshaft gegen den Beschwerdeführer zu 2. in einem Arrestzentrum vollstreckt werde, in dem ihm mindestens 4,15 m² persönlicher Raum einschließlich Bett und Möbeln zur Verfügung stünden. Die Räume könnten belüftet und beheizt werden. Die Insassen hätten Zugang zu fließendem Wasser und sanitären Anlagen und könnten im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen im Freien spazieren. In welcher Haftanstalt der Beschwerdeführer zu 2. im Falle einer rechtskräftigen Verurteilung untergebracht würde, stehe noch nicht fest. In einem zweiten Schreiben bat die Generalstaatsanwaltschaft die rumänischen Behörden erneut, zuzusichern, dass der dem Beschwerdeführer nach einer Verurteilung zur Verfügung stehende persönliche Raum mindestens 3 m² betrage.
Das Oberlandesgericht erklärte die Auslieferung des Beschwerdeführers zu 2. für zulässig, ohne eine Antwort der rumänischen Behörden auf die Nachfrage der Generalstaatsanwaltschaft abzuwarten. Das Vorliegen einer echten Gefahr menschenrechtswidriger Haftbedingungen könne im konkreten Einzelfall ausgeschlossen werden. In Anbetracht des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten seien die Justizbehörden des ersuchten Mitgliedstaats nicht verpflichtet, die Haftbedingungen auch in Haftanstalten, in denen der Beschwerdeführer gegebenenfalls später inhaftiert werden könnte, zu überprüfen.

Die Beschwerdeführer rügen eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 1, Art. 2 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 19 Abs. 4 und Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.

Die zulässigen Verfassungsbeschwerden sind begründet. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen die Beschwerdeführer jeweils in ihrem Grundrecht aus Art. 4 GRCh.

Wesentliche Erwägungen des BVerfG:

  1. Der Rechtsstreit der Ausgangsverfahren betrifft eine unionsrechtlich vollständig determinierte Materie. Die Grundrechte des Grundgesetzes kommen deshalb nicht als unmittelbarer Prüfungsmaßstab zur Anwendung. Maßgeblich sind die Unionsgrundrechte, wie sie insbesondere in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union Ausdruck gefunden haben. Bei der Auslegung der Unionsgrundrechte sind sowohl die vom EGMR konkretisierten Konventionsrechte als auch die von den Verfassungs- und Höchstgerichten der Mitgliedstaaten ausgeformten mitgliedstaatlichen Grundrechte, wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen ergeben, heranzuziehen.
  2. Das mit einem Überstellungsersuchen befasste Gericht muss in einem durch einen Europäischen Haftbefehl eingeleiteten Überstellungsverfahren nach gefestigter Rechtsprechung des EuGH prüfen, ob für den zu Überstellenden eine konkrete Gefahr besteht, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh ausgesetzt zu werden. Dies ist durch das zuständige Fachgericht in zwei Prüfungsschritten von Amts wegen aufzuklären.

Im ersten, die allgemeine Haftsituation betreffenden Schritt ist das Gericht verpflichtet, anhand objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben zu prüfen, ob es in Bezug auf die Haftbedingungen in den Haftanstalten des Ausstellungsmitgliedstaats systemische oder allgemeine Mängel gibt.

In einem zweiten, auf die Situation des Betroffenen bezogenen Schritt muss das Gericht genau prüfen, ob es unter den konkreten Umständen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die gesuchte Person nach ihrer Überstellung an den Ausstellungsmitgliedstaat aufgrund der Haftbedingungen, unter denen sie inhaftiert sein wird, einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh ausgesetzt sein wird. Dies erfordert eine aktuelle und eingehende Prüfung der Situation und muss auf einer Gesamtwürdigung der maßgeblichen, konkret zu erwartenden Haftbedingungen beruhen.

Bei der vorzunehmenden Gesamtwürdigung der Haftbedingungen ist nach der Rechtsprechung des EuGH und des EGMR bei Gemeinschaftszellen hinsichtlich des einem Inhaftierten zur Verfügung stehenden Raums zu unterscheiden, ob dieser unter 3 m², zwischen 3 m² und 4 m² oder über 4 m² liegt. Liegt der persönliche Raum in einer Gemeinschaftszelle unter 3 m², begründet dies eine starke Vermutung für einen Verstoß gegen Art. 4 GRCh beziehungsweise Art. 3 EMRK. Verfügt ein Gefangener in einer Gemeinschaftszelle über einen persönlichen Raum, der zwischen 3 m² und 4 m² beträgt, kann ein Verstoß gegen Art. 4 GRCh beziehungsweise Art. 3 EMRK vorliegen, wenn zu dem Raummangel weitere defizitäre Haftbedingungen hinzutreten, wie etwa fehlender Zugang zu Frischluft und Tageslicht, schlechte Belüftung, eine zu niedrige oder zu hohe Raumtemperatur, fehlende Intimsphäre in den Toiletten oder schlechte Sanitär- und Hygienebedingungen. Bei mehr als 4 m² persönlichem Raum in einer Gemeinschaftszelle bleiben die weiteren Aspekte der Haftbedingungen für die erforderliche Gesamtbeurteilung relevant.

  1. Mit dem zweistufigen Prüfprogramm sind Aufklärungspflichten des mit einem Überstellungsersuchen befassten Gerichts verbunden. Aus Art. 4 GRCh folgt nach der Rechtsprechung des EuGH die Pflicht, im Einzelfall zu prüfen und durch zusätzliche Informationen aufzuklären, ob das Grundrecht des zu Überstellenden aus Art. 4 GRCh gewahrt ist.

Das Gericht muss den Ausstellungsmitgliedstaat um die unverzügliche Übermittlung aller notwendigen zusätzlichen Informationen in Bezug auf die Bedingungen bitten, unter denen die betreffende Person in diesem Mitgliedstaat inhaftiert werden soll. Der Ausstellungsmitgliedstaat ist verpflichtet, diese Informationen innerhalb der ihm vom ersuchten Mitgliedstaat gesetzten Fristen zu übermitteln. Kann das Vorliegen einer solchen Gefahr nicht innerhalb einer angemessenen Frist ausgeschlossen werden, muss das Gericht darüber entscheiden, ob das Übergabeverfahren zu beenden ist.

  1. Diese vom EuGH bei der Auslegung des Art. 4 GRCh angewandten Maßstäbe decken sich mit Art. 1 Abs. 1 GG sowohl hinsichtlich der Mindestanforderungen an Haftbedingungen im ersuchenden Staat als auch hinsichtlich der damit verbundenen Aufklärungspflichten des mit dem Überstellungsersuchen befassten Gerichts. Eine unter Rückgriff auf Art. 79 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG begründete Begrenzung des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts im Rahmen der Identitätskontrolle ist deshalb im vorliegenden Zusammenhang nicht veranlasst.
  2. Nach diesen Maßstäben halten die angegriffenen Entscheidungen einer verfassungsrechtlichen Prüfung nicht stand, weil sie die Bedeutung und Tragweite von Art. 4 GRCh und die damit verbundenen Aufklärungspflichten nicht in ausreichendem Maße berücksichtigt haben.
  3. a) Das KG hat die im zweiten Prüfungsschritt erforderliche Gesamtabwägung der maßgeblichen Haftbedingungen nur unzureichend durchgeführt.

Das bloße Abstellen auf die mitgeteilte Mindesthaftraumgröße von 3 m² pro Person ist für die erforderliche Gesamtwürdigung der Haftbedingungen nicht ausreichend, weil der dem Inhaftierten zur Verfügung stehende persönliche Raum zwar ein bedeutender, aber nicht der alleinige Faktor für deren Bewertung ist. Auch bei einem persönlichen Raum in einer Gemeinschaftszelle von 3 m² beziehungsweise zwischen 3 m² und 4 m² können erniedrigende und unmenschliche Haftbedingungen i.S.v. Art. 4 GRCh vorliegen, wenn zum Raummangel noch weitere defizitäre Haftbedingungen hinzutreten. Das KG war aufgrund seiner Aufklärungspflichten deshalb verpflichtet, zusätzliche Informationen über die weiteren Haftbedingungen bei den rumänischen Behörden anzufordern. Das Gericht hat seine Prüfung ferner zu Unrecht auf die ersten beiden Vollzugsregime (Quarantäne und geschlossener Vollzug) beschränkt. Bei der erforderlichen Gesamtwürdigung der Haftbedingungen hätte das KG berücksichtigen müssen, dass bei einer hinreichend wahrscheinlichen Überstellung in den halboffenen Vollzug eine dauerhafte Unterbringung in einer Gemeinschaftszelle mit einem persönlichen Raum von nur 2 m² mit Art. 4 GRCh unvereinbar ist.

  1. b) Das OLG Celle ist seiner Aufklärungspflicht nach Art. 4 GRCh auf der zweiten Prüfungsstufe ebenfalls nicht nachgekommen.

Die Generalstaatsanwaltschaft hatte aufgrund der problematischen Haftbedingungen zusätzliche Informationen von den rumänischen Behörden angefordert sowie diese zur Abgabe einer konkreten Zusicherung für den Strafvollzug im Falle einer Verurteilung des Beschwerdeführers zu 2. aufgefordert. Eine Antwort der rumänischen Behörden auf das zweite Informationsschreiben der Generalstaatsanwaltschaft stand noch aus. Deshalb war das Oberlandesgericht verpflichtet, den rumänischen Behörden eine konkrete Frist für die Übermittlung der angeforderten zusätzlichen Informationen zu setzen und die Entscheidung über die Zulässigkeit der Überstellung bis zum Eingang einer Antwort zurückzustellen. Wäre dies nicht innerhalb einer angemessenen Frist erfolgt, hätte das Oberlandesgericht darüber entscheiden müssen, ob das Überstellungsverfahren hätte beendet werden müssen.