Der Europäische Gerichtshof hat am 17.12.2020 zum Aktenzeichen C-693/18 CLCV entschieden, dass Autohersteller keine Abschalteinrichtung nutzen dürfen, die bei Zulassungsverfahren systematisch die Abgaswerte auf dem Prüfstand verbessert.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 170/2020 vom 17.12.2020 ergibt sich:
Das Unternehmen X ist ein Automobilhersteller, der in Frankreich Kraftfahrzeuge vertreibt. Dieses Unternehmen soll Fahrzeuge mit einer Software auf den Markt gebracht haben, die geeignet ist, die Ergebnisse der Zulassungstests in Bezug auf Emissionen von Schadstoffen wie Stickoxiden (im Folgenden: NOx) zu verfälschen. Infolge von Enthüllungen in der Presse leitete die Staatsanwaltschaft Paris eine Untersuchung ein, aufgrund deren es zu einem Ermittlungsverfahren gegen das Unternehmen X kam. Die mutmaßliche Straftat soll darin bestehen, dass die Erwerber von Fahrzeugen mit Dieselmotoren über wesentliche Eigenschaften dieser Fahrzeuge und über die vor ihrem Inverkehrbringen durchgeführten Kontrollen getäuscht wurden. Die fraglichen Fahrzeuge waren mit einem Ventil zur Abgasrückführung (AGR) ausgestattet. Das AGR-Ventil ist eine der Technologien, die von den Automobilherstellern zur Kontrolle und Verringerung der endgültigen NOx-Emissionen verwendet werden. Es handelt sich um ein System, das darin besteht, einen Teil der Abgase von Verbrennungsmotoren zum Ansaugkrümmer, d.h. dorthin, wo die dem Motor zugeführte Frischluft eintritt, zurückzuführen, um die endgültigen NOx-Emissionen zu verringern. Vor ihrem Inverkehrbringen wurden diese Fahrzeuge in einem Labor Zulassungstests nach einem anhand verschiedener technischer Parameter (Temperatur, Geschwindigkeit etc.) vordefinierten Zyklus (dem Neuen Europäischen Fahrzyklus, NEFZ) unterzogen. Diese Tests dienen unter anderem dazu, die Höhe der NOx-Emissionen und die Einhaltung der insoweit in der Verordnung Nr. 715/2007 (ABl. 2007, L 171, 1) festgelegten Grenzwerte zu überprüfen. Die Emissionen der fraglichen Fahrzeuge waren somit nicht unter realen Fahrbedingungen analysiert worden. Ein technisches Gutachten, das im Rahmen des Ermittlungsverfahrens erstellt wurde, kam zu dem Ergebnis, dass die fraglichen Fahrzeuge über eine Einrichtung verfügen, die es ermöglicht, die Phasen der Zulassungstests zu erkennen und infolgedessen die Funktion des AGR-Systems so anzupassen, dass die vorgeschriebene Emissionsobergrenze eingehalten wird. Umgekehrt führt diese Einrichtung unter anderen Bedingungen als jenen der Zulassungstests, d.h. beim normalen Fahrbetrieb, zu einer (teilweisen) Deaktivierung des AGR-Systems und damit zu einer Erhöhung der NOx-Emissionen. Der Gutachter gab an, dass die Fahrzeuge erheblich weniger NOx erzeugt hätten, wenn das AGR-System bei realem Fahrbetrieb so funktioniert hätte wie bei den Zulassungstests. Bei diesen Fahrzeugen wären aber unter anderem aufgrund einer schnelleren Verschmutzung des Motors häufigere und kostspieligere Wartungsarbeiten angefallen. Die Verordnung Nr. 715/2007 verbietet ausdrücklich die Verwendung von Abschalteinrichtungen, die die Wirkung von Emissionskontrollsystemen unter normalen Nutzungsbedingungen verringern.
Das nationale Gericht hat beschlossen, den EuGH anzurufen, um Klarstellungen insbesondere zur Definition und zur Tragweite der Begriffe „Emissionskontrollsystem“ und „Abschalteinrichtung“ zu erhalten.
Der EuGH hat entschieden, dass ein Hersteller keine Abschalteinrichtung einbauen darf, die bei Zulassungsverfahren systematisch die Leistung des Systems zur Kontrolle der Emissionen von Fahrzeugen verbessert, um ihre Zulassung zu erreichen.Die Tatsache, dass eine solche Abschalteinrichtung dazu beitrage, den Verschleiß oder die Verschmutzung des Motors zu verhindern, könne ihr Vorhandensein nicht rechtfertigen.
Nach Auffassung des EuGh ist zunächst zu prüfen, ob eine in den Rechner zur Motorsteuerung integrierte oder auf ihn einwirkende Software ein „Konstruktionsteil“ i.S.d. VO Nr. 715/2007 darstellt. Der Begriff „Abschalteinrichtung“ werde in dieser Verordnung definiert als „ein Konstruktionsteil, das die Temperatur, die Fahrzeuggeschwindigkeit, die Motordrehzahl (UpM), den eingelegten Getriebegang, den Unterdruck im Einlasskrümmer oder sonstige Parameter ermittele, um die Funktion eines beliebigen Teils des Emissionskontrollsystems zu aktivieren, zu verändern, zu verzögern oder zu deaktivieren, wodurch die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems unter Bedingungen, die bei normalem Fahrzeugbetrieb vernünftigerweise zu erwarten sind, verringert wird“. Der Begriff „Konstruktionsteil“ werde in der Verordnung nicht definiert. Nach seinem üblichen Sinn bezeichne dieser Begriff einen im Hinblick auf seine Einbeziehung in ein funktionales Ganzes hergestellten Gegenstand. Wie aus der Verordnung hervorgehe, bezeichne der dort definierte Begriff der Abschalteinrichtung „ein“, d.h. jedes Konstruktionsteil. Die Wirksamkeit der Entgiftung hänge mit der Öffnung des AGR-Ventils zusammen, das durch den Quellcode der in den Rechner integrierten Software gesteuert werde. Da sie somit auf die Funktion des Emissionskontrollsystems einwirke und dessen Wirksamkeit verringere, handele es sich bei einer in den Rechner zur Motorsteuerung integrierten Software wie der hier in Rede stehenden um ein „Konstruktionsteil“ i.S.d. VO Nr. 715/2007.
Der EuGH prüft sodann, ob die im AGR-System verwendete Technologie, bei der die Emissionen im Vorhinein, d.h. bei ihrer Entstehung im Motor selbst, verringert werden, unter den Begriff „Emissionskontrollsystem“ im Sinne der Verordnung fällt. In der Verordnung als solcher werde dieser Begriff nicht definiert, aber in ihrer Präambel heiße es, dass es angesichts des mit ihr angestrebten Ziels der Verringerung von Emissionen erforderlich sei, Einrichtungen zur Messung und Kontrolle der bei der Nutzung eines Fahrzeugs auftretenden Emissionen vorzusehen. Ferner werde in der Verordnung das von den Herstellern zu erreichende Ziel einer Begrenzung der Auspuffemissionen festgelegt, ohne die Mittel zu seiner Erreichung näher anzugeben. Sie sehe nämlich vor, dass die vom Hersteller ergriffenen technischen Maßnahmen sicherstellen müssten, dass u.a. die Auspuffemissionen während der gesamten normalen Lebensdauer eines Fahrzeugs bei normalen Nutzungsbedingungen wirkungsvoll begrenzt werden. Bei den Typgenehmigungen von Kraftfahrzeugen werde die Höhe der Emissionen stets am Auslass des Auspuffs gemessen. Eine Differenzierung zwischen der Strategie, die Abgasemissionen nach ihrer Entstehung zu reduzieren, und der Strategie, mit der sie bei ihrer Entstehung begrenzt werden sollen, könne deshalb nicht vorgenommen werden. Aus der Verordnung Nr. 715/2007 ergebe sich somit, dass der Begriff „Emissionskontrollsystem“ sowohl die Technologien und die im Motor der Fahrzeuge ansetzende Strategie zur Begrenzung von Emissionen umfasse als auch diejenigen, mit denen die Emissionen nach ihrer Entstehung verringert werden sollen. Daraus sei zu schließen, dass sowohl die Technologien und die Strategie, mit denen die Emissionen im Nachhinein, d.h. nach ihrer Entstehung, verringert werden, als auch diejenigen, mit denen – wie mit dem AGR-System – die Emissionen im Vorhinein, d.h. bei ihrer Entstehung, verringert werden, unter den Begriff „Emissionskontrollsystem“ fallen.
Ferner prüft der EuGH, ob eine Einrichtung, die jeden Parameter im Zusammenhang mit dem Ablauf der Zulassungsverfahren erkennt, um die Leistung des Emissionskontrollsystems bei diesen Verfahren zu verbessern und so die Zulassung des Fahrzeugs zu erreichen, eine „Abschalteinrichtung“ darstellt, selbst wenn eine solche Verbesserung punktuell auch unter normalen Nutzungsbedingungen des Fahrzeugs beobachtet werden kann. Er weist darauf hin, dass die Fahrzeuge im Rahmen der teilweisen Zulassung in Bezug auf Schadstoffemissionen anhand des NEFZ-Geschwindigkeitsprofils getestet werden, das darin besteht, im Labor vier Cityzyklen, gefolgt von einem Überlandzyklus, zu durchlaufen. Mit ihm lasse sich u.a. prüfen, ob die emittierte NOx-Menge unter dem in der Verordnung Nr. 715/2007 vorgesehenen Grenzwert liege. Die Testzyklen für die Emissionen von Fahrzeugen im Rahmen dieses Verfahrens beruhten somit nicht auf den tatsächlichen Fahrbedingungen. Die in Rede stehende Software ermögliche es, die Parameter zu erkennen, die denen der Labortests anhand des NEFZ-Profils entsprechen, und gegebenenfalls den Öffnungsgrad des AGR-Ventils zu erhöhen, um einen größeren Teil der Abgase zum Ansaugkrümmer zurückzuführen und so die Emissionen des getesteten Fahrzeugs zu verringern. Sie ermögliche es mithin, die Funktion des AGR-Ventils zu verstärken, damit die Emissionen unter den in der Verordnung Nr. 715/2007 festgelegten Grenzwerten liegen. Nach einer Prüfung des Begriffs „Abschalteinrichtung“ im Sinne dieser Verordnung kommt der EuGH zu dem Schluss, dass eine Software, die wie die in Rede stehende Software die Höhe der Fahrzeugemissionen nach Maßgabe der von ihr erkannten Fahrbedingungen modifiziert und die Einhaltung der Emissionsgrenzwerte nur unter Bedingungen gewährleistet, die den für die Zulassungsverfahren geltenden Bedingungen entsprechen, eine solche Abschalteinrichtung darstellt. Dies gelte selbst dann, wenn die Verbesserung der Leistung des Emissionskontrollsystems punktuell auch unter normalen Nutzungsbedingungen des Fahrzeugs beobachtet werden könne. Die Tatsache, dass die normalen Nutzungsbedingungen der Fahrzeuge ausnahmsweise den für die Zulassungsverfahren geltenden Fahrbedingungen entsprechen und punktuell die Leistung der fraglichen Einrichtung verbessern können, wirke sich auf diese Auslegung nicht aus, denn unter den normalen Nutzungsbedingungen der Fahrzeuge werde das Ziel, die NOx-Emissionen zu verringern, für gewöhnlich nicht erreicht.
Zu der Frage, ob der grundsätzlich unzulässige Einbau einer Abschalteinrichtung, die die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems verringert, gerechtfertigt werden kann, führt der EuGH aus, dass das Vorhandensein einer solchen Einrichtung es, um gerechtfertigt zu sein, ermöglichen muss, den Motor vor plötzlichen und außergewöhnlichen Schäden zu schützen, und dass nur unmittelbare Beschädigungsrisiken, die zu einer konkreten Gefahr während des Betriebs des Fahrzeugs führen, geeignet sind, die Nutzung einer Abschalteinrichtung zu rechtfertigen. Das in der Verordnung aufgestellte Verbot würde nämlich seiner Substanz entleert und jeder praktischen Wirksamkeit beraubt, wenn es möglich wäre, auf unzulässige Abschalteinrichtungen allein mit dem Ziel zurückzugreifen, den Motor vor Verschmutzung und Verschleiß zu bewahren. Daraus sei zu schließen, dass eine Abschalteinrichtung, die bei Zulassungsverfahren systematisch die Leistung des Systems zur Kontrolle der Emissionen von Fahrzeugen verbessere, damit die in der Verordnung festgelegten Emissionsgrenzwerte eingehalten werden und so die Zulassung dieser Fahrzeuge erreicht werde, nicht unter die Ausnahme von dem in der Verordnung aufgestellten Verbot solcher Einrichtungen fallen könne, selbst wenn die Einrichtung dazu beitrage, den Verschleiß oder die Verschmutzung des Motors zu verhindern.