Der Europäische Gerichtshof hat am 17.12.2020 zum Aktenzeichen C-336/19 entschieden, dass die Mitgliedstaaten zur Förderung des Tierwohls auch für rituelle Schlachtung eine Betäubung vorsehen können, die umkehrbar und nicht geeignet ist, den Tod des Tieres herbeizuführen.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 163/2020 vom 17.12.2020 ergibt sich:
Das Dekret der Flämischen Region (Belgien) vom 07.07.2017 zur Änderung des Gesetzes über den Schutz und das Wohlbefinden der Tiere, was die zugelassenen Methoden für die Schlachtung von Tieren betrifft, hat zur Folge, dass die Schlachtung von Tieren ohne vorherige Betäubung verboten wird, und zwar auch was Schlachtungen anbelangt, die durch einen religiösen Ritus vorgeschrieben sind. Es schreibt im Rahmen der rituellen Schlachtung eine Betäubung vor, die umkehrbar und nicht geeignet ist, den Tod des Tieres herbeizuführen. Gegen dieses Dekret haben u.a. mehrere jüdische und muslimische Vereinigungen Klage mit dem Antrag erhoben, es insgesamt oder teilweise für nichtig zu erklären. Sie sind der Ansicht, dieses Dekret verstoße, indem es jüdischen und muslimischen Gläubigen die Möglichkeit nehme, sich mit Fleisch zu versorgen, das von Tieren stamme, die gemäß ihren religiösen Geboten, die der Technik der umkehrbaren Betäubung entgegenstünden, geschlachtet worden seien, gegen die Verordnung Nr. 1099/2009 (ABl. 2009, L 303, 1) und hindere die Gläubigen somit daran, ihre Religion auszuüben.
Vor diesem Hintergrund hat der Grondwettelijk Hof (Verfassungsgerichtshof, Belgien) beschlossen, den EuGH um Vorabentscheidung zu ersuchen, um in erster Linie zu klären, ob das Unionsrecht der Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die im Rahmen der rituellen Schlachtung ein Verfahren einer Betäubung vorschreibt, die umkehrbar und nicht geeignet ist, den Tod des Tieres herbeizuführen.
Diese Frage bietet dem EuGH nach den Urteilen vom 29.05.2018 (C-426/16) und vom 26.02.2019 (C-497/17) zum dritten Mal Anlass, eine Abwägung zwischen der in Art. 10 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerten Religionsfreiheit und dem Wohlergehen der Tiere, wie es in Art. 13 AEUV genannt und in der Verordnung Nr. 1099/2009 konkretisiert wird, vorzunehmen.
Nach Auffassung des EuGH entspricht der mit der Verordnung Nr. 1099/2009 aufgestellte Grundsatz der Betäubung des Tieres vor der Tötung dem mit dieser Richtlinie als Hauptziel verfolgten Tierschutz. Insoweit lasse Art. 4 Abs. 4 der Verordnung Nr. 1099/2009 zwar die Praxis der rituellen Schlachtung zu, in deren Rahmen das Tier ohne vorherige Betäubung getötet werden könne, jedoch sei diese Form der Schlachtung in der Union nur ausnahmsweise erlaubt, um die Beachtung der Religionsfreiheit sicherzustellen. Außerdem könnten die Mitgliedstaaten nationale Vorschriften erlassen, mit denen ein umfassenderer Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Tötung als in dieser Verordnung Nr. 1099/2009 im Bereich der rituellen Schlachtung vorgesehen sichergestellt werden soll (Art. 26 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1099/2009). Somit spiegele die Verordnung Nr. 1099/2009 den Umstand wider, dass die Mitgliedstaaten den Erfordernissen des Wohlergehens der Tiere in vollem Umfang Rechnung tragen und hierbei die Vorschriften und die Gepflogenheiten der Mitgliedstaaten insbesondere in Bezug auf religiöse Riten berücksichtigten. Allerdings stelle die Verordnung Nr. 1099/2009 nicht selbst den erforderlichen Einklang zwischen dem Wohlergehen der Tiere und der Freiheit, seine Religion zu bekennen, her, sondern beschränke sich darauf, den Rahmen für den Einklang vorzugeben, den die Mitgliedstaaten zwischen diesen beiden Werten herzustellen haben. Folglich stehe die Verordnung Nr. 1099/2009 dem nicht entgegen, dass die Mitgliedstaaten eine Verpflichtung zur Betäubung der Tiere vor der Tötung auferlegten, die auch im Rahmen einer durch religiöse Riten vorgeschriebenen Schlachtung gelte, allerdings unter dem Vorbehalt, dass die Mitgliedstaaten dabei die in der Charta verankerten Grundrechte achten.
Was konkret die Frage betreffe, ob das Dekret diese Grundrechte achte, sei darauf hinzuweisen, dass die rituelle Schlachtung unter die in Art. 10 Abs. 1 der Charta garantierte Freiheit, seine Religion zu bekennen, falle. Indem das Dekret im Rahmen der rituellen Schlachtung eine umkehrbare Betäubung vorschreibe, die mit den religiösen Geboten der jüdischen und muslimischen Gläubigen im Widerspruch stehe, bringe es somit für diese Gläubigen eine Einschränkung der Ausübung des Rechts auf die Freiheit mit sich, ihre Religion zu bekennen.
Um zu beurteilen, ob eine solche Einschränkung zulässig sei, sei festzustellen, dass der sich aus dem Dekret ergebende Eingriff in die Freiheit, seine Religion zu bekennen, gesetzlich vorgesehen sei und darüber hinaus den Wesensgehalt von Art. 10 der Charta achte, da er auf einen Aspekt der spezifischen rituellen Handlung, die die Schlachtung darstelle, beschränkt sei, während diese als solche nicht verboten sei. Dieser Eingriff entspreche einer von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung, nämlich der Förderung des Wohlergehens der Tiere.
Im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Einschränkung gelangt der EuGH zu dem Ergebnis, dass die Maßnahmen, die das Dekret umfasst, es ermöglichen, ein angemessenes Gleichgewicht zwischen der Bedeutung, die dem Tierschutz beigemessen wird, und der Freiheit der jüdischen und muslimischen Gläubigen, ihre Religion zu bekennen, zu gewährleisten. Die Verpflichtung zur vorherigen umkehrbaren Betäubung sei geeignet, das Ziel der Förderung des Wohlbefindens der Tiere zu erreichen. Was zweitens die Erforderlichkeit des Eingriffs betrifft, so betont der EuGH, dass der Unionsgesetzgeber jedem Mitgliedstaat im Rahmen des Einklangs zwischen dem Schutz des Tierwohls bei der Tötung der Tiere und der Wahrung der Freiheit, seine Religion zu bekennen, einen weiten Wertungsspielraum einräumen wollte. Es sei aber ein wissenschaftlicher Konsens darüber entstanden, dass die vorherige Betäubung das beste Mittel sei, um das Leiden des Tieres zum Zeitpunkt seiner Tötung zu verringern. Hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit dieses Eingriffs sei festzustellen, dass sich der flämische Gesetzgeber auf wissenschaftliche Untersuchungen stützte und dem modernsten erlaubten Tötungsverfahren den Vorzug geben wollte. Der flämische Gesetzgeber stellte sich in einen sich entwickelnden gesellschaftlichen und normativen Kontext, der durch eine zunehmende Sensibilisierung für die Problematik des Tierschutzes gekennzeichnet sei. Schließlich sei festzustellen, dass das Dekret das Inverkehrbringen von Erzeugnissen tierischen Ursprungs, die von rituell geschlachteten Tieren stammen, weder verbiete noch behindere, wenn diese Erzeugnisse aus einem anderen Mitgliedstaat oder einem Drittstaat stammten. Daher stehe die Verordnung Nr. 1099/2009 im Licht von Art. 13 AEUV und Art. 10 Abs. 1 der Charta der Regelung eines Mitgliedstaats, die im Rahmen der rituellen Schlachtung ein Verfahren einer Betäubung vorschreibe, die umkehrbar und nicht geeignet sei, den Tod des Tieres herbeizuführen, nicht entgegen.
Außerdem bestätigt der EuGH die Gültigkeit der Verordnung Nr. 1099/20095 im Hinblick auf die Grundsätze der Gleichheit, der Nichtdiskriminierung sowie der Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen, wie sie in Art. 20, 21 bzw. 22 der Charta garantiert sind. Der Umstand, dass die Verordnung Nr. 1099/2009 die Mitgliedstaaten ermächtige, Maßnahmen wie die verpflichtende Betäubung im Rahmen der rituellen Schlachtung zu treffen, aber keine vergleichbare Bestimmung für die Tötung von Tieren bei der Jagd oder der Fischerei oder bei kulturellen oder Sportveranstaltungen enthalte, stelle keinen Verstoß gegen diese Grundsätze dar. Kulturelle und Sportveranstaltungen führten allenfalls zu einer marginalen Erzeugung von Fleisch, die wirtschaftlich unbedeutend sei. Folglich könne eine solche Veranstaltung vernünftigerweise nicht als eine Tätigkeit der Herstellung von Lebensmitteln angesehen werden, was es rechtfertige, sie anders zu behandeln als eine Schlachtung. Hinsichtlich der Jagd und der Freizeitfischerei zieht der EuGH die gleiche Schlussfolgerung. Bei diesen Tätigkeiten seien die Umstände der Tötung nämlich ganz anders als im Fall von Nutztieren.