Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls: Recht des Betroffenen auf neue Verhandlung?

Der Europäische Gerichtshof hat am 17.12.2020 zum Aktenzeichen C-416/20 PPU entschieden, dass die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, der zur Vollstreckung einer in Abwesenheit verhängten Freiheitsstrafe ausgestellt wurde, verweigert werden kann, wenn der Ausstellungsmitgliedstaat nicht zugesichert hat, dass das Recht des Betroffenen auf eine neue Verhandlung gewahrt wird.

Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 169/2020 vom 17.12.2020 ergibt sich:

TR, ein rumänischer Staatsangehöriger, wurde in Rumänien im Rahmen von zwei gesonderten Verfahren strafrechtlich verfolgt. Da er nach Deutschland geflüchtet war, fanden die ihn betreffenden Verfahren sowohl im ersten Rechtszug als auch in der Berufung in seiner Abwesenheit statt. Er hatte jedoch Kenntnis von mindestens einem dieser Verfahren und wurde dort im ersten Rechtszug von Anwälten seiner Wahl und in der Berufung von Pflichtverteidigern vertreten. Die Verhandlungen führten zu Verurteilungen zu zwei Freiheitsstrafen. Zu ihrer Vollstreckung erließen die rumänischen Behörden Europäische Haftbefehle. Seit dem 31.03.2020 befindet sich TR in Hamburg in Haft. Am 28.05.2020 beschloss das OLG Hamburg, den Europäischen Haftbefehlen Folge zu leisten. TR ist dem entgegengetreten und hat darauf verwiesen, dass die rumänischen Behörden sich geweigert hätten, die Wiederaufnahme der fraglichen Strafverfahren zu garantieren; dies sei unvereinbar mit dem Recht beschuldigter Personen auf Anwesenheit in der sie betreffenden Verhandlung bzw., im Fall der Abwesenheit, ihrem Recht auf eine neue Verhandlung. Das deutsche Gericht hat somit darüber zu entscheiden, ob die Übergabe von TR auf der Grundlage der nationalen Bestimmungen zur Umsetzung von Art. 4a des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl (ABl. 2009, L 81, 24) zulässig ist. Nach Art. 4a kann die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, der zur Vollstreckung einer in Abwesenheit des Betroffenen verhängten Freiheitsstrafe ausgestellt wurde, verweigern, es sei denn, dass eine der dort abschließend aufgezählten Fallgruppen vorliegt.
In diesem Kontext möchte das vorlegende Gericht vom EuGH wissen, welche Auswirkungen es hat, wenn im Ausstellungsmitgliedstaat die Anforderungen in Bezug auf das Recht auf eine neue Verhandlung nicht eingehalten werden, wobei sich dieser Umstand keiner der in Art. 4a genannten Fallgruppen zuordnen lässt.

Der EuGH hat im Rahmen des Eilvorabentscheidungsverfahrens (PPU) entschieden, dass Art. 4a des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl die vollstreckende Justizbehörde nicht dazu ermächtigt, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls allein deshalb zu verweigern, weil sie keine Zusicherung erhalten hat, dass bei einer Übergabe des Betroffenen an den Ausstellungsmitgliedstaat, obwohl er in den Vollstreckungsmitgliedstaat geflüchtet ist, damit seine persönliche Ladung verhindert hat und nicht persönlich zur Verhandlung erschienen ist, sein Recht auf eine neue Verhandlung gewahrt wird.

Nach Auffassung des EuGH werden die Fälle, in denen die Mitgliedstaaten die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls ablehnen können, abschließend aufgezählt und die vollstreckende Justizbehörde darf die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nicht von anderen Bedingungen abhängig machen.

Die Abwesenheit des Betroffenen bei der Verhandlung, die zu seiner Verurteilung führte, auf deren Grundlage sodann ein Europäischer Haftbefehl gegen ihn erlassen wurde, stelle einen Grund dar, aus dem die Vollstreckung dieses Europäischen Haftbefehls verweigert werden könne. Seit einer Änderung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl sei dieser Ablehnungsgrund jedoch enger gefasst, denn in Art. 4a werden abschließend die Fallgruppen aufgezählt, in denen davon auszugehen sei, dass die Vollstreckung eines solchen Europäischen Haftbefehls die Verteidigungsrechte nicht beeinträchtige. In diesen Fällen sei die vollstreckende Justizbehörde mithin verpflichtet, den Europäischen Haftbefehl zu vollstrecken. Dies gelte u.a. dann, wenn der Betroffene in Kenntnis der anberaumten Verhandlung einem entweder von ihm selbst oder vom Staat bestellten Rechtsbeistand ein Mandat erteilt habe und von diesem Rechtsbeistand tatsächlich verteidigt wurde.

Zudem könne die Nichtbeachtung der Bestimmungen des Unionsrechts, die das Recht auf eine neue Verhandlung gewährleisteten, durch den Ausstellungsmitgliedstaat der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nicht entgegenstehen, da sonst das durch den Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl geschaffene System umgangen würde. Dies lasse jedoch die Pflicht des Ausstellungsmitgliedstaats zur Beachtung dieser Bestimmungen unberührt. Sofern er sie nicht fristgemäß oder nicht ordnungsgemäß umgesetzt habe, könne sich der Betroffene daher im Fall seiner Übergabe vor den Gerichten dieses Mitgliedstaats auf die Bestimmungen berufen, die unmittelbare Wirkung haben.

Der geprüfte Grund sei ein fakultativer Grund für die Verweigerung der Vollstreckung. Sollte die vollstreckende Justizbehörde zu dem Ergebnis kommen, dass keine der Fallgruppen vorliege, in denen sie nicht zur Verweigerung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, der zur Vollstreckung eines in Abwesenheit ergangenen Urteils ausgestellt wurde, befugt sei, könne sie somit andere Umstände berücksichtigen, die es ihr erlaubten, sich zu vergewissern, dass die Übergabe des Betroffenen keine Verletzung seiner Verteidigungsrechte impliziere. Gegebenenfalls könne sie ihn sodann dem Ausstellungsmitgliedstaat übergeben. Insoweit könne die vollstreckende Justizbehörde das Verhalten des Betroffenen berücksichtigen. Im Rahmen ihrer Beurteilung sei insbesondere relevant, dass der Betroffene versucht habe, sich der Zustellung der an ihn gerichteten Informationen über die Strafverfahren zu entziehen, oder dass er jeden Kontakt mit den Pflichtverteidigern vermieden habe.