Nach Ansicht von Generalanwältin Juliane Kokott hat die Kommission die belgische Praxis der negativen Anpassung der Gewinne multinationaler Konzernunternehmen zu Recht als Beihilferegelung angesehen.
Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 153/2020 vom 03.12.2020 ergibt sich:
Das anderslautende Urteil des EuG sei aufzuheben und das EuG müsse erneut über die Klagen von Belgien und Magnetrol International entscheiden, so die Generalanwältin.
Von 2004 bis 2014 korrigierte die belgische Finanzverwaltung im Wege von Steuervorbescheiden (tax rulings) die steuerbaren Gewinne von insgesamt 55 inländischen Unternehmen, die zu multinationalen Konzernen gehören, nach unten, was auch als Steuerbefreiung von Mehrgewinnen bezeichnet wird. Dabei stützte sie sich auf eine Vorschrift des belgischen Einkommensteuergesetzbuchs, wonach entsprechend dem international allgemein anerkannten Fremdvergleichsgrundsatz die Gewinne zwischen zwei konzernverbundenen Unternehmen angepasst werden können, wenn die zwischen ihnen vereinbarten Bedingungen nicht die gleichen waren, wie sie unabhängige Unternehmen miteinander vereinbaren würden. Nach Auffassung der Kommission wurden jedoch nicht Entgelte für Leistungen zwischen zwei verbundenen Unternehmen anhand des Fremdvergleichsmaßstabs neu beurteilt, wie im Einkommensteuergesetzbuch vorgesehen, sondern die belgischen Steuerbehörden verglichen unabhängig von derartigen Leistungen den Gewinn des in einen „grenzüberschreitenden Konzern“ eingebundenen Unternehmens mit dem hypothetischen Gewinn eines nicht verbundenen Unternehmens. Dabei wurde der hypothetische durchschnittliche Gewinn geschätzt, den ein eigenständiges Unternehmen, das eine vergleichbare Tätigkeit ausübt, in einer vergleichbaren Lage erwirtschaftet hätte. Dieser Betrag wurde sodann von dem tatsächlich erzielten Gewinn des betroffenen international konzerngebundenen belgischen Unternehmens abgezogen. Die Differenz ergab den steuerbefreiten Mehrgewinn, der mittels eines Vorbescheides zugesichert werden konnte. Um in den Genuss dieses Vorbescheides zu kommen, reichte es aus, dass ein solcher beantragt wurde und die Gewinne mit einer neuen Situation zusammenhingen, z. B. einer Neuorganisation, die zu einer Neuansiedlung des Hauptunternehmens in Belgien führt, der Schaffung von Arbeitsplätzen oder der Vornahme von Investitionen. Die belgischen Behörden warben sogar mit der Möglichkeit dieser Steuerbefreiung der Mehrgewinne.
Mit Beschluss vom 11.01.2016 (ABl. 2016, L 260, 61) stellte die Kommission fest, dass diese Praxis der belgischen Finanzverwaltung eine Beihilferegelung (i.S.v. Art. 1 Buchst. d der Verordnung (EU) 2015/1589, ABl. 2015, L 248, 9) darstelle, die mit dem Binnenmarkt unvereinbar und darüber hinaus rechtswidrig angewendet worden sei, da sie nicht bei der Kommission angemeldet worden war. Außerdem ordnete die Kommission die Rückforderung der gewährten Beihilfen von den Empfängern an, deren abschließende Liste Belgien später aufzustellen hatte.
Auf Klagen von Belgien und Magnetrol International erklärte das EuG den Kommissionsbeschluss mit Urteil vom 14.02.2019 (T-131/16 und T-263/16) für nichtig. Die Feststellung der Kommission, dass eine Beihilferegelung vorliege, sei fehlerhaft. Insbesondere habe die Kommission nicht alle ergangenen Steuervorbescheide überprüft, sondern nur eine Stichprobe. Damit habe sie nicht nachgewiesen, dass die belgischen Steuerbehörden in allen Steuervorbescheiden einem systematischen Konzept folgten. Gegen das Urteil hat die Kommission ein Rechtsmittel beim EuGH eingelegt. Belgien hat ein Anschlussrechtsmittel eingelegt, mit dem es rügt, dass das EuG einen Eingriff in seine Steuerhoheit verneint habe.
Generalanwältin Juliane Kokott hat in ihren Schlussanträgen vom 03.12.2020 dem EuGH vorgeschlagen, das Urteil des EuG aufzuheben, da die Kommission entgegen den Feststellungen des EuG in ihrem Beschluss hinreichend dargelegt habe, dass die belgische Praxis der negativen Anpassung der Gewinne multinationaler Konzernunternehmen die Voraussetzungen einer „Beihilferegelung“ erfülle.
Einleitend weist die Generalanwältin darauf hin, dass es im Rahmen des vorliegenden Rechtsmittels nicht darum gehe, ob die streitigen Steuervorbescheide tatsächlich, wie die Kommission festgestellt hat, verbotene Beihilfen darstellen. Vielmehr gehe es lediglich um die Frage, ob, und wenn ja, unter welchen Voraussetzungen, die Kommission eine Vielzahl derartiger Steuervorbescheide „im Paket“ als Beihilferegelung beanstanden könne. Die große praktische Bedeutung dieser Frage zeige sich u.a. daran, dass es sich vorliegend um ein Pilotverfahren handele. 28 weitere Klagen von Begünstigten der mutmaßlichen Beihilfe sind derzeit ausgesetzt.
Was die erste der drei Voraussetzungen für das Vorliegen einer Beihilferegelung anbelange, nämlich dass es sich um eine Regelung handele, so habe das EuG entgegen dem Vorbringen der Kommission jedoch nicht ausgeschlossen, dass eine ständige Verwaltungspraxis eine solche Regelung darstellen könne. Vielmehr habe es lediglich festgestellt, dass die Kommission keine ständige Verwaltungspraxis nachgewiesen habe. Die rechtlichen Anforderungen an einen hinreichenden Nachweis habe das EuG aber zu eng gezogen.
Nach Auffassung der Generalanwältin kann sich die Kommission für den Nachweis einer ständigen Verwaltungspraxis auch auf eine Stichprobe stützen. Entgegen der Ansicht des EuG habe die Kommission in ihrem Beschluss hinreichend dargelegt, dass ihre Stichprobe insgesamt repräsentativ sei und damit für den Nachweis einer ständigen Verwaltungspraxis ausreiche. Auch die beiden weiteren Voraussetzungen für das Vorliegen einer Beihilferegelung (nämlich dass keine näheren Durchführungsmaßnahmen erforderlich sind und die Begünstigten allgemein und abstrakt definiert sind) habe das EuG zu Unrecht als nicht erfüllt angesehen.
Generalanwältin Kokott schlägt vor, die Sache an das EuG zurückzuverweisen. Das EuG müsse nämlich noch beurteilen, ob – wie Belgien und Magnetrol International im Rahmen ihrer Klagen geltend gemacht haben, was das Gericht aber bislang noch nicht geprüft hat – die Steuervorbescheide über die negative Gewinnanpassung staatliche Beihilfen sind und ob die Rückforderung der angeblichen Beihilfen gegen insbesondere die Grundsätze der Gesetzmäßigkeit und des Vertrauensschutzes verstößt.
Das von Belgien eingelegte Anschlussrechtsmittel hält die Generalanwältin für unzulässig, da es insoweit an einem Rechtsschutzbedürfnis fehle. Denn entweder werde das Rechtsmittel der Kommission zurückgewiesen, und die Aufhebung des Kommissionsbeschlusses werde dadurch – ganz im Sinne Belgiens – rechtskräftig. Oder aber der EuGH verweise die Sache an das EuG zurück. Über dessen Erwägungen zur Steuerhoheit der Mitgliedstaaten würde der EuGH dann erst in einem weiteren Rechtsmittel entscheiden.