Schlussanträge zur Rechtsstaatlichkeit in Ungarn

04. Dezember 2020 -

Generalanwalt Michal Bobek ist der Auffassung, dass der EuGH die Klage Ungarns, die sich gegen die Entschließung des Parlaments über die Einleitung eines Verfahrens für die Feststellung richtet, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Werte, auf die sich die Union gründe, durch diesen Mitgliedstaat bestehe, abweisen sollte.

Aus der Pressemitteilung des EuGH Nr. 151/2020 vom 03.12.2020 ergibt sich:

Die Klage sei zwar zulässig, aber nicht begründet, so der Generalanwalt.

Am 12.09.2018 nahm das Europäische Parlament auf der Grundlage eines Berichts des Ausschusses für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres, der auch unter dem Namen der Berichterstatterin als Sargentini-Bericht bekannt ist, eine Entschließung zu einem Vorschlag an, mit dem der Rat aufgefordert wurde, im Einklang mit Art. 7 Abs. EUV festzustellen, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Werte, auf die sich die Union gründe, durch Ungarn bestehe. Nach Art. 354 AEUV hatte die Annahme der in Rede stehenden Entschließung im Parlament mit der Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen und mit der Mehrheit seiner Mitglieder zu erfolgen. Da Art. 354 AEUV aber nicht klarstellt, ob für die Annahme oder die Ablehnung eines Textes außer den Ja- und den Nein-Stimmen auch die Stimmenthaltungen bei der Berechnung zu berücksichtigen sind, wandte das Parlament Art. 178 Abs. 3 seiner Geschäftsordnung über Abstimmungen an, nach der Stimmenthaltungen nicht zu berücksichtigen sind, es sei denn, in den Verträgen ist eine spezifische Mehrheit vorgesehen. Die Entschließung wurde mit 448 Ja-Stimmen gegen 197 Nein-Stimmen angenommen, wobei sich 48 der anwesenden Mitglieder des Europäischen Parlaments der Stimme enthielten. Wären die Stimmenthaltungen bei der Berechnung der Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen einbezogen worden, wäre die erforderliche Mehrheit verfehlt worden.
Ungarn hat beim EuGH beantragt, die fragliche Entschließung für nichtig zu erklären, und vorgetragen, dass bei der Berechnung der in Art. 354 AEUV vorgesehenen Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen auch die Stimmenthaltungen hätten berücksichtigt werden sollen und dass das Parlament, indem es die Stimmenthaltungen unberücksichtigt gelassen habe, die Vorgaben dieses Artikels nicht eingehalten habe.

Generalanwalt Michal Bobek hat in seinen Schlussanträgen vom 03.12.2020 dem EuGH vorgeschlagen, die Klage Ungarns als unbegründet abzuweisen.

Zur Zulässigkeit der Klage weist der Generalanwalt darauf hin, dass der Zuständigkeit des EuGH, soweit die Verträge keine eindeutige und ausdrückliche Ausnahme vorsehen, alle Handlungen der EU unterliegen und dass darüber hinaus jedwede ausdrückliche Ausnahme eng auszulegen ist. Dass Art. 269 AEUV dem EuGH eine besondere Zuständigkeit zuweise, um in Bezug auf eine vom Europäischen Rat oder vom Rat getroffene Feststellung nach Art. 7 EUV die Einhaltung der Verfahrensbestimmungen zu überprüfen, könne nicht als Ausschluss sämtlicher anderer Handlungen von einer gerichtlichen Überprüfung verstanden werden, die auf Art. 7 EUV beruhten. Vielmehr finden auf die auf der Grundlage von Art. 7 EUV ergangenen Rechtsakte, die nicht von Art. 269 AEUV erfasst werden, weiterhin die allgemeinen Regeln von Art. 263 AEUV Anwendung, die die gerichtliche Überprüfung von Handlungen der EU-Organe regelten.

Der Generalanwalt hat dem EuGH vorgeschlagen, die Frage zu verneinen, ob es sich bei der angefochtenen Entschließung um eine rein vorbereitende Handlung ohne Rechtswirkungen handele, die als solche keiner gerichtlichen Überprüfung nach Art. 263 AEUV zugänglich sei. Zum einen werde mit der angefochtenen Entschließung der Standpunkt des Parlaments in dieser Angelegenheit endgültig festgelegt, und zum anderen könnten etwaige im Zuge ihrer Annahme unterlaufende Mängel nicht in späteren Abschnitten des Verfahrens nach Art. 7 EUV behoben werden.

Darüber hinaus seien Rechtswirkungen gegenüber Dritten i.S.v. Art. 263 Abs. 1 AEUV mit der angefochtenen Entschließung nicht nur beabsichtigt, sondern würden tatsächlich und eindeutig auch erzeugt. Die fragliche Entschließung habe das Verfahren nach Art. 7 EUV eingeleitet und entfalte dadurch bereits Rechtwirkungen, oder solchen Rechtswirkungen seien mit ihr mit Sicherheit beabsichtigt gewesen. Zudem verliere der betroffene Mitgliedstaat, wenn das Verfahren nach Art. 7 Abs. 1 EUV eingeleitet worden sei und bis der Rat diesbezüglich einen Beschluss fasse, in Asylsachen gegenüber den anderen Mitgliedstaaten den Status als sicheres Herkunftsland. Die anderen Mitgliedstaaten könnten dann Asylanträge, die Staatsangehörige des fraglichen Mitgliedstaats bei ihnen stellten, in der Sache prüfen. Ebenso könne die angefochtene Entschließung im Licht der Rechtsprechung des EuGH (Urt. v. 25.07.2018 – C-216/18 PPU „Minister for Justice and Equality (Mängel des Justizsystems)) Auswirkungen auf das gegenseitige Vertrauen und die gegenseitige Anerkennung im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts haben, insbesondere im Zusammenhang mit der Vollstreckung Europäischer Haftbefehle.

In Anbetracht dessen ist der Generalanwalt der Auffassung, Ungarn habe ein eindeutiges Interesse daran, eine Klage gegen die angefochtene Entschließung zu erheben. Diese Entschließung bewirke nicht nur die Einleitung eines Verfahrens nach Art. 7 Abs. 1 EUV, sondern entfalte auch eigenständige Rechtswirkungen gegenüber dem betroffenen Mitgliedstaat. Daher solle der EuGH die Klage für zulässig erachten.

Zur Begründetheit der Klage stellt der Generalanwalt erstens fest, dass sich aus sprachlicher Sicht „Stimmenthaltung“ und „abgegebene Stimmen“ gegenseitig ausschließen. Während eine Person, die sich der Stimme enthalte, bei der Auszählung nicht als jemand berücksichtigt werden wolle, der für oder gegen einen Antrag sei, und den Wunsch habe, so behandelt zu werden, als ob sie überhaupt nicht an der Abstimmung teilnehme, bedeute „abgegebene Stimme“, dass eine Person ihrer Meinung aktiv Ausdruck verliehen habe, indem sie bei der Abstimmung für oder gegen einen Antrag gestimmt habe.

Zweitens habe die in der Geschäftsordnung des Parlaments enthaltene Vorschrift über die Abstimmung in ihrer zum maßgeblichen Zeitpunkt geltenden Fassung bestimmt, dass für die Annahme oder Ablehnung eines Textes nur die abgegebenen Ja- und Nein-Stimmen bei der Berechnung des Abstimmungsergebnisses berücksichtigt würden, ausgenommen in den Fällen, für die in den Verträgen eine spezifische Mehrheit vorgesehen sei, und habe damit Stimmenthaltungen eindeutig von der Zählung ausgeschlossen. Dass diese Vorschrift in Abweichung von der in ihr zum Ausdruck gebrachten allgemeinen Regel auch auf eine Situation verweise, in der „in den Verträgen eine spezifische Mehrheit vorgesehen“ sei, stelle die Stichhaltigkeit dieser Folgerung nicht in Frage, da in den Verträgen eine solche Ausnahme bislang noch nicht vorgesehen worden sei.

Drittens seien den Mitgliedern des Europäischen Parlaments die für den Abstimmungsprozess geltenden Vorschriften bekannt gewesen, da sie anderthalb Tage vor der Abstimmung ordnungsgemäß darüber unterrichtet worden seien, dass Stimmenthaltungen nicht als abgegebene Stimmen gezählt werden würden, und sie hätten daher ihr Stimmrecht im Licht dieser Vorschriften ausüben können.

Schließlich weist der Generalanwalt das Vorbringen Ungarns zurück, wonach der Präsident des Parlaments, indem er es versäumt habe, den Ausschuss für konstitutionelle Fragen des Parlaments um eine Stellungnahme zur Auslegung der die Abstimmung betreffenden Vorschrift der Geschäftsordnung zu ersuchen, seiner Verpflichtung nicht nachgekommen sei, die Unklarheiten zu beseitigen, die angeblich in Bezug auf diese Vorschrift bestünden. Die Geschäftsordnung des Parlaments enthalte keine Verpflichtung, den genannten Ausschuss zur Auslegung der Abstimmungsregeln zu konsultieren.

Unter diesen Umständen solle die Klage Ungarns als unbegründet abgewiesen werden.