Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht in Lüneburg hat mit Beschluss vom 30.11.2020 zum Aktenzeichen 13 MN 520/20 entschieden, dass die Niedersächsische Quarantäne-Verordnung nicht vorläufig außer Vollzug gesetzt wird.
Aus der Pressemitteilung des Nds. OVG Nr. 61/2020 vom 01.12.2020 ergibt sich:
Nach § 1 der Niedersächsischen Quarantäne-Verordnung vom 06.11.2020 sind Personen, die aus dem Ausland nach Niedersachsen einreisen und sich zu einem beliebigen Zeitpunkt innerhalb von zehn Tagen vor ihrer Einreise in einem Risikogebiet aufgehalten haben, verpflichtet, sich unverzüglich in eine zehntägige Quarantäne zu begeben. Sie müssen die zuständigen Behörden informieren und unterliegen der Beobachtung durch diese. Die Einstufung als Risikogebiet erfolgt mit Ablauf des ersten Tages nach Veröffentlichung durch das Robert Koch-Institut (RKI), nachdem das Bundesministerium für Gesundheit, das Auswärtige Amt und das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat darüber entschieden haben.
Gegen diese Regelungen, die auf der Muster-Quarantäneverordnung von Bund und Ländern basieren, hatte sich ein Antragsteller mit einem Normenkontrolleilantrag gewandt, der im ländlichen Teil Spaniens, einem vom RKI ausgewiesenen Risikogebiet, eine Ferienwohnung besitzt. Er hält die Quarantäne für unverhältnismäßig. In dem Gebiet, in dem sich seine Ferienwohnung befinde, sei das Infektionsrisiko geringer als in seiner niedersächsischen Heimat und anderen Regionen Deutschlands.
Das OVG Lüneburg hat diesen Eilantrag nach einer sog. Folgenabwägung abgelehnt.
Für das Oberverwaltungsgericht ist derzeit offen, ob § 1 Abs. 1 bis 3 der Niedersächsischen Quarantäne-Verordnung in einem Hauptsacheverfahren für rechtmäßig oder für unwirksam zu erklären sei. Das Oberverwaltungsgericht gehe zwar davon aus, dass die Verordnungsregelungen auf einer tragfähigen Rechtsgrundlage beruhten und formell rechtmäßig seien. Zweifel an der materiellen Rechtmäßigkeit bestünden angesichts des aktuellen weltweiten Infektionsgeschehens auch nicht mit Blick auf das „Ob“ eines staatlichen Handelns. Auch dass möglicherweise am Rückkehrort, in Teilen oder gar in der gesamten Bundesrepublik ein gleiches oder höheres Infektionsrisiko wie in einem Risikogebiet bestehe, schließe die Anordnung einer Quarantäne tatbestandlich nicht aus. Die Feststellung, Ansteckungsverdächtiger zu sein, sei nicht in Abhängigkeit von dem durchschnittlichen Infektionsrisiko in der Bevölkerung zu sehen, sondern liege immer dann vor, wenn aufgrund von Tatsachen angenommen werden könne, dass die betroffene Person Krankheitserreger aufgenommen habe. Die hier vorgenommene Festlegung von Risikogebieten beruhe auf einer hinreichend aussagekräftigen Tatsachengrundlage. Die Einstufung als Risikogebiet, die nicht der Verordnungsgeber vornehme und die deshalb als solche nicht der Normenkontrolle unterliege, erfolge nicht allein anhand von Infektionszahlen, sondern unter Berücksichtigung diverser Faktoren (z. B. Rate der SARS-CoV-2-Neuinfektionen, Testpositivität, Testrate, Testkapazitäten, Infektionsgeschehen vor Ort, Art von Ausbrüchen und ergriffene Maßnahmen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens).
Es sei aber offen, ob die streitgegenständlichen Verordnungsregelungen in ihrer konkreten Ausgestaltung nach Art und Umfang als notwendige Schutzmaßnahmen anzusehen seien, insbesondere ob ein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz vorliege und die Verhältnismäßigkeit gewahrt sei. Die Pandemielage sei aktuell dadurch gekennzeichnet, dass der Aufenthalt in Niedersachsen und einem Großteil der übrigen Bundesländer mit einer vergleichbaren Infektionsgefahr verbunden sein dürfte wie der Aufenthalt in einem gemäß der Niedersächsischen Quarantäne-Verordnung benannten Risikogebiet. Vor diesem Hintergrund sei die Argumentation, Auslandsreisen würden eine signifikante zusätzliche Infektionsgefahr nicht begründen, nicht ohne Weiteres von der Hand zu weisen (so das OVG Münster, Beschl. v. 20.11.2020 – 13 B 1770/20.NE Rn. 36 ff.). Dass dies eine sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung vergleichbarer Sachverhalte und damit einen Verstoß gegen den grundgesetzlichen Gleichheitssatz darstelle, sei jedoch nicht zwingend anzunehmen. Eine unterschiedliche Behandlung von Rückkehrern aus dem Ausland könne auch nach der Entscheidung des OVG Münster grundsätzlich gerechtfertigt sein, wenn und soweit mit Blick auf Unklarheiten der Reisewege, das Zusammentreffen einer Vielzahl von unbekannten Reisenden oder unklaren Infektionslagen in Drittländern ein sachlicher Differenzierungsgrund bestehe. Das Bewegungs- und damit Kontaktprofil von Auslandsreisenden unterscheide sich typischerweise von dem Daheimgebliebener.
Durch die stärkere Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln, öffentlicher Infrastruktur (Flughäfen, Beherbergungsbetriebe) und die bei Auslandsreisen oft eintretende Kontaktaufnahme mit Personen, die nicht dem alltäglichen Umfeld entstammten, sei das Verhalten von Auslandsreisenden typisierbar eher gefahrengeneigt. Dies unterscheide sich auch gegenüber innerdeutsch Reisenden, da hierzulande etwa Beherbergungsbetriebe für touristische Zwecke, Gastronomie- und Kulturbetriebe vollständig geschlossen sind. Ein Vergleich der Infektionsgefahren für Reisende aus dem Ausland einerseits und Daheimgebliebene anderseits sei damit nur durch Berücksichtigung vieler Faktoren möglich. Eine Quarantäne-Verordnung müsse nicht alle diese Faktoren abbilden. Würde sie es tun, wäre sie voraussichtlich unübersichtlich und schwer handhabbar und würde damit ihren infektionsschützenden Zweck verfehlen. Gesichtspunkte der Praktikabilität und der Einfachheit des Rechts könnten generalisierende Regelungen rechtfertigen. Verbleibende ungerechtfertigte Ungleichbehandlungen könnten durch Befreiungen überwunden werden. Dies sei jedenfalls im Rahmen der summarischen Prüfung nicht als von vorneherein untaugliches Mittel zur Sicherstellung des Gleichheitsgrundrechts anzusehen. Die Niedersächsische Quarantäne-Verordnung enthalte in § 1 Abs. 9 eine Befreiungsmöglichkeit im Einzelfall. Die abschließende Klärung der Rechtmäßigkeit bzw. Unwirksamkeit von § 1 Abs. 1 bis 3 der Niedersächsischen Quarantäne-Verordnung müsse insoweit aber einem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.
Die danach gebotene Folgenabwägung führe mit Blick auf die gravierenden, teils irreversiblen Folgen eines weiteren Anstiegs der Zahl von Ansteckungen und Erkrankungen für die Rechtsgüter Leib und Leben einer Vielzahl Betroffener sowie die Gefahr einer Überlastung des Gesundheitswesens dazu, dass der Antragsteller den durch die Quarantäneanordnung bewirkten Eingriff gegenwärtig hinzunehmen habe.
Der Beschluss ist unanfechtbar.
Hinweis: Der Beschluss betrifft die Niedersächsische Quarantäne-Verordnung in der Fassung, die am 30.11.2020 außer Kraft getreten ist. Die am 01.12.2020 in Kraft getretene neue Fassung der Verordnung enthält jedoch in § 1 eine vergleichbare Regelung.